Und das tue ich dann auch
während der zwei verbleibenden Drittel des Aufstiegs. Von Zeit zu Zeit bleibe
ich stehen, nur einige Momente, um die Veränderungen in der Aussicht wahr zu
nehmen. Man könnte meinen, wir wollten den Pumori besteigen. Er ragt direkt
hinter dem Kala Pattar auf und so laufen wir schnurstracks auf seine
Eispyramide zu. Im unteren Khumbu, etliche Hundert Meter tiefer, liegt eine
geschlossene Wolkendecke. Als Extraattraktion heute, als ob es einer solchen
noch bedürfte, füllt die weiße Watte das untere Tal. Wie ein weißes Meer
zwischen hohen Gipfel sieht das aus. Gegenüber steht der atemberaubende
Nuptse, beinahe greifbar. Über zweitausend Meter steil abfallende Eiswände wendet er
mir zu, kalt, abweisend, scheinbar unbezwingbar. Um seinen nach Nordwesten
auslaufenden Grat knickt der Khumbugletscher talwärts. Der gefährliche,
berühmt-berüchtigte, spaltendurchfurchte Eisfall wirkt von hier harumlos, wie
ein missratener, puderbezuckerter Streuselkuchen. |
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Die Wolkendecke hebt sich langsam.
Doch für die nächsten Stunden bleibt die Sicht super! |
Doch
all diese Sensationen sind zu toppen! Er schlägt sie alle, er ist der höchste Punkt auf dem Dach der
Welt, der höchste Berg der Erde. Er ist Sagarmatha für die Nepalis, heiliger
Chomolungma der Tibeter und Mount Everest für den Rest der Welt. Es gibt
spektakulärere, schwierigere, sagenumwobenere, schönere Berge. Aber keiner ist
höher, achttausendachthundertachtundvierzig Meter reckt er seine schwarze
Pyramide in den Himmel. Schon von hier setzt sich der Südgipfel (8751m)
deutlich ab, erkennt man den Südsattel (7925m), zwischen Everest und Lhotse
(8414m).
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Der
Weg ist einfach, verlangt keine Konzentration, also bin ich einzig schuftende
Lunge und immer wieder gierig schauende Augen. Natürlich sind die zu
überwindenden 450 Höhenmeter anstrengend, treiben den Puls gewaltig nach oben.
Aber ich fühle mich großartig und stark, widerstandsfähig. Letzten Endes ist
nun wenig Unterschied zu einer alle Leistung fordernden, steilen Strecke in
heimischen Gefilden. Das hier ist ein kontrollierter, bewusster Aufstieg, kein
Vergleich zu dem „Gekrieche“ vor zwei Jahren auf den Cotopaxi. Es lebe die
Akklimatisation! |
Auf dem Kala Pattar: Ich stehe ihm gegenüber,
dem höchsten Berg der Erde! |
Um
9.20 Uhr ist die Gruppe oben. Kurz unterhalb des Gipfelsteinmannes sorgt ein
wackeliger Felsbrocken noch einmal kurz für einen Adrenalinschub. Geschafft!
Viel ist jetzt zu tun, ausgiebiges Schauen, Staunen und vor allem Fotografieren
hebt an. Der „Steinhaufen" Kala Pattar ist objektiv ohne jede Bedeutung, eine
unscheinbare Erhebung von 5545 Metern zwischen geologischen Sensationen.
Dennoch wird er mir unvergesslich bleiben, als Aussichtsberg und weil für mich
diese Höhe immer eine Herausforderung ist. Von dem üppig mit bunten
Gebetsfähnchen drapierten Gipfel geht der Blick ringsum. Die meisten Blicke
zieht die gewaltige schwarze Pyramide des Sagarmatha auf sich. Ein Großteil des
Normalanstieges ist nun |
erkennbar. Über dem Khumbu-Eisfall fixieren meine Augen
die Position von Lager I, den Südsattel und hangeln sich entlang des Südgrates
zum Südgipfel und schließlich auf 8848 Meter.
Aber
auch alle anderen Himmelsrichtungen wissen mit Schönheit zu beeindrucken.
Nächstgelegen der Pumori - wenn ich jetzt einen Stein aufhebe und in seine
Richtung schleudere, dann wird an seinen weißen Flanken eine Lawine abgehen. Unfug,
Trugschluss dieser Gedanke, meine Augen lassen sich vom fehlenden Bezug
täuschen. Später, beim Blick auf die Karte, werde ich feststellen, dass der
Gipfel noch zwei Kilometer weit weg ist! Und doch muss ich hier den Kopf heben,
um die Spitze sehen zu können. Tendi deutet in Richtung des Pumori-Basislagers.
An welcher Stelle mögen die toten Spanier liegen? Von den Spuren einer Lawine
ist nichts zu sehen. Stunden später, zurück an der Lodge, werde ich erfahren,
dass eine Bergung ihrer Leichen nicht möglich ist. Sie sind zu tief verschüttet
und liegen an zu exponierter Stelle. Sie haben ihr Grab gefunden, bis sie das
Eis dereinst freigeben wird ...
Im
Südwesten verhindert die dichte Wolkendecke Einblicke in die Tallagen.
Inzwischen hat sie sich um einige Hundert Meter gehoben und ist auch weiter ins
obere Khumbu vorgedrungen. Die vordersten Ausläufer müssen die Lodge schon
erreicht haben. Sollte Ines dort unten auch noch mit Schatten und Kälte
bestraft
werden? Ein bisschen traurig sitze ich schon hier auf diesem Gipfel.
Dass sie nicht mit aufsteigen konnte, gemeinsames Erleben nicht möglich ist,
dämpft meine Euphorie und vergällt die Freude hier zu sein. Es will mir auch
nicht in den Kopf, dass es ausgerechnet sie treffen musste! Sie, die doch alle
Entbehrungen am leichtesten von allen weg zu stecken schien und mit der Höhe
nicht die mindesten Probleme hatte. |
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Schon oft stand ich auf Gipfeln. Für die Schönheit
dieses Rundblicks finde ich keine Worte ... |
Ich
schieße ein Foto von Tendi vor dem Pumori. Er hat es sich, zwischen den Steinen
liegend, „gemütlich" gemacht. Solches Verhalten ist ungewöhnlich, gerade für
Tendi, unseren jederzeit „dienstbaren Geist", der ständig ein waches Auge darauf
hat, ob jemand Hilfe braucht oder eine Erklärung. Dennoch denke ich mir hier
noch gar nichts dabei, glaube einfach nur ein witziges Foto zu schießen.
Fotos!
Fotos! Bin ich süchtig? Immer wieder drücke ich auf den Auslöser, lasse mich
natürlich auch vor Kala Pattar und vor allem dem Everest ablichten. Das
Chomolungma-Motiv habe ich nun sicher mehr als zehn Mal im Kasten. Keinem geht
es hier anders, meterweise Filmstreifen werden hier verbraucht, digitale
Speicher mit Megabytes Everest gefüllt.
Der
wackelige Felsblock unterhalb des Kala Pattar Gipfels ist zwischenzeitlich zur
Unfallgefahr geworden. Wir sind ja nicht alleine hier oben, andere Gruppen
haben dasselbe Ziel und ständig treffen neue Trekker ein. Unsere Guides
beseitigen das Problem, hieven den tonnenschweren Brocken an und so poltert er
einige Meter tiefer.
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Dieser Anblick lohnt jede Strapaze - Sagarmatha 8848m |
Fast
windstill ist es und angenehm warm. Bilder, die mich in voller „Montur" zeigen,
täuschen Kälte vor. In Wahrheit habe ich nicht viel an. Unter der Goretex-Jacke
lediglich ein langärmeliges Hemd, unter der Goretex-Hose nicht mal eine lange
Unterhose. Bei gutem Wetter im Oktober ist das unnötig, während des Aufstiegs
ohnehin. Untypisch für mich ist lediglich die Mütze, die ich seit Tagen trage.
Jeder Luftzug lässt einen am Kopf frösteln und meine erkälteten Mittrekker sind
Warnung genug. |
Und
wieder schweift der Blick. Der Nuptse spielt sich auf! Deutlich näher als der
Mount Everest, versucht er sich größer und bedeutender erscheinen zu lassen.
Mit gefährlich steilem Eis und Fels, jäh abfallenden Gletschern, rissig,
klumpig hängenden Eisbrüchen und einem kilometerlang nach Westen abfallenden
Grat gewinnt er die ihm zustehende Aufmerksamkeit.
Losreißen,
Abschied nehmen vom Kala Pattar, von einem der außergewöhnlichsten Orte dieser
Erde, wir müssen absteigen. Ich frage mich, wie es meiner Frau geht, drei
Stunden sind seit dem Aufbruch vergangen. Also beeile ich mich mit dem Abstieg,
halte nur ein paar Mal inne für das eine oder andere Foto und zum Schauen. Ich
finde sie guten Mutes, lesend, in der Sonne vor der Lodge sitzend. Der Ausblick
von hier unten ist auch beeindruckend, von ihrer Sitzposition aus blickt sie
direkt in die atemberaubenden Wände des Nuptse. Und sogar vom Mount Everest
kann man ein Stück erspähen. Kurz vor meiner Ankunft an der Lodge sah ich ein
Yak, das als „Fotomodell" auf einem Hügel posierte. Meine Hoffnungen, das träge
Tier könnte dort noch stehen erfüllen sich und ich pirsche mich vorsichtig
heran, um es nicht zu erschrecken. Wuchtig, klotzig und dunkel steht der Berg
aus Fell und Fleisch vor den Himalayagiganten. Dieser Schnappschuss muss ganz
einfach gelingen ...
Ein Berg aus Fell und Fleisch - Sie nennen es Yak |
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Es
folgt ein Mittagessen im Freien, gut eingepackt, denn mittlerweile ist böiger
Wind aufgekommen, der bisweilen um die Lodgeecken fegt. Lars und Günther
vertreiben sich und auch ein wenig uns Zuschauern die Zeit, indem sie einen
„Videofilm" drehen. Kameramann ist Günther, einziger und Hauptdarsteller Lars.
Drehbuch gibt es keines, so bleibt reichlich Raum für Spontanität. Das Sujet?
Dargestellt werden die ausufernden Probleme eines nächtlichen
Toilettenbesuches: |
Hierbei ergänzen sich Taschenlampen- und
Klorollenhalteproblematik, Entleerungsdruck sowie das Hantieren an der eigenen
Kleidung zu einem Fiasko der unangenehmsten Art...
Nach
diesem lustigen Intermezzo spricht sich herum, dass Tendi Herzprobleme hat. Er hat sich
drinnen hingelegt und hofft bis zum Abmarsch wieder fit zu sein. Von den
Herzproblemen hat er vor Tagen schon einmal berichtet, als er die Geschichte
von seinem Mount-Everest-Versuch erzählte. Da erwischte es ihn mit vierzig
Kilogramm Last auf dem Rücken, in über 7000 Metern Höhe - das Ende seiner
Expeditionskarriere. Niemand von uns ahnte anlässlich seiner Schilderungen,
dass diese Beschwerden auch in niedrigeren Höhen wiederkehren könnten. Beim
ersten Aufbruchsversuch nach Lobuche übergibt sich Tendi schon ein paar Meter
hinter der Lodge und bleibt kraftlos sitzen. Georg hat einen neuen Patienten.
Zufällig ist die Ärztin aus Pheriche, von der Hilfsstation, wo ich das
Antibiotikum vor ein paar Tagen kaufte, heute hier oben. Georg hat sie während
der Mittagsrast gesehen und erkannt. Jetzt holt er sie, um sicherheitshalber
eine zweite Diagnose zu haben. Alle sind ehrlich betroffen, stellen
Überlegungen zu unserem Certek-Bag an, der jetzt natürlich schon in Lobuche
sein dürfte, die Träger brachen ja schon irgendwann am Vormittag auf. Da fällt
mir ein, dass ich unsere Parallelgruppe bei der Nachbarlodge ankommen sah, als
ich vom Kala Pattar zurück kehrte. Irgendwer rennt sofort los, vielleicht
brauchen wir ja den Certek-Bag für Tendi. Nach kurzer Zeit steht beider Ärzte
Meinung fest, keine HAS (Höhenkrankheit), Tendis Herz schlägt arhythmisch. Kaum
fassbar aber Georg, der Internist, hat auch Stethoskop und Betablocker gegen
Herzrhythmusstörungen dabei!!! Eine Tablette verabreicht er ihm sofort mit
einem Schluck aus einer Trinkflasche. Jetzt braucht Tendi eine Stunde Ruhe.
Danach - so hofft Georg - ist er so weit wieder hergestellt, dass die
anderthalb Stunden Abstieg nach Lobuche möglich sind. Der eilig
herbeigeschaffte Certek-Bag wird nicht benötigt und man trägt die Alu-Kiste
wieder weg.
Tendi
ist das sichtlich peinlich! Er als Hindernis der Gruppe! Er, der doch den Weg
sichern und helfen sollte, wo immer nötig! Er ist nun selbst auf Hilfe
angewiesen. Auch Tej versucht Entschuldigungen für die Verzögerung, fühlt sich
seinen „Kunden“ gegenüber schuldig. Selbstverständlich für mich, was nun
geschieht: Jeder signalisiert sein eindeutiges „no problem“, hilft wo immer
möglich und sei es nur durch Zurückhaltung oder einen aufmunternden Blick.
Geraume Zeit schon denke ich darüber nach, was ich tun könnte. Doch die einzig
wichtigen Personen für Tendi sind nun Georg und Tej und deshalb verkrümele mich
mit Ines und den anderen wieder auf die Plastikstühle vor der Lodge. Dort in
der Sonne warten wir die Stunde ab. Kälter ist es geworden und noch windiger.
Ich ziehe unter meine dünne Jacke den Fleece-Pullover an. Tej ist unterdessen
dabei zwei Träger anzuheuern, die Tendi nach Lobuche tragen (!) sollen.
Mindestens einer der Sherpas gehört zu unserer Parallelgruppe. Zum zweiten Mal
seit der Base-Camp-Sache sehe ich Tej mit todernstem Gesicht agieren. Alle
Verantwortung lastet letztlich alleine auf ihm.
Also
dann los! Der erste Sherpa nimmt Tendi Huckepack und trägt ihn die fünfzig
Höhenmeter des einzigen Anstieges nach Lobuche hinauf. Dort oben fühlt sich
Tendi ganz offensichtlich besser. Ab hier läuft er selbst, langsam, bedächtig,
immer wieder Pausen einlegend, die ihm Tej verordnet. Wieder überlege ich, wie
ich mich nützlich machen kann. Tej kann sich nun gar nicht mehr auf die Gruppe
konzentrieren, er läuft an der Spitze zusammen mit Tendi. Kommentarlos nehme
ich die Nachhut ein und zähle von Zeit zu Zeit die Gruppe durch. Der Weg ist
zwar völlig harmlos, obendrein bekannt aber man kann ja nie wissen. Bald steht
fest, dass die Träger nicht mehr gebraucht werden. Tej zahlt sie aus und mit
Danke und freundlichem Hallo verlassen sie uns in Richtung Gorak Shep. So gerät
unser Rückmarsch nach Lobuche zum Krankentransport. Nein, ein Spaß ist das alles
wirklich nicht. Was wäre aus Tendi geworden, gehörte unserer Gruppe nicht rein
zufällig ein Internist an? Ich frage mich das, denke es aber nicht zu Ende ...
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Unbeschreiblich, unfassbar, unerreichbar, unüberbietbar: Mount Everest und Nuptse! |
Am
Abend, in der schon hinlänglich bekannten Lodge, verordnen wir Tendi absolute
Ruhe und sitzen. Jeder Versuch etwas zu tun, mitzuhelfen oder dergleichen, wird
schon im Keim erstickt. Georg hat ihn gleich nach der Ankunft im Schlafraum
noch einmal gründlich mit dem Stethoskop abgehorcht und war zufrieden. Ende
gut, alles gut. Übrigens auch für den am Vorabend vermissten Tschechen. Als der
gegen zwanzig Uhr immer noch nicht aufgetaucht war, organisierten die in Gorak
Shep versammelten Guides eine Suchaktion. Alle Nepali schwärmten aus und fanden
ihn zusammen gekauert, sitzend. Er hatte sich verlaufen...