13. Trekkingtag, „Auf den Kala Pattar und zurück bis Lobuche"


 

Ines kommt nicht mit! Sofort um sechs Uhr früh beim Aufstehen steht das fest und ich weiß, das wird meine Begeisterung für die heutige Unternehmung dämpfen und das auf Gemeinsamkeit angelegte Erlebnis schmälern.

Aufstieg zum Kala Pattar Aufstieg zum Kala Pattar: Traumhaftes Wetter, traumhafte Umgebung

Bei neuerlich wolkenlosem Wetter und einer Sonne, die alles in satte Farben taucht, setzt sich die Gruppe gegen halb acht in Bewegung. Schon am ersten Steilhang legt Tej mehrere Pausen ein. So kann ich meinen Geh- und Atemrhythmus nicht durchhalten. Das zermürbt und macht mich ungehalten. Schließlich bleibe ich ein Stück zurück und erkläre Tendi, der meist die „rote Laterne trägt", dass ich jetzt ohne Pausen in meinem Wunschtempo gehen werde.

Und das tue ich dann auch während der zwei verbleibenden Drittel des Aufstiegs. Von Zeit zu Zeit bleibe ich stehen, nur einige Momente, um die Veränderungen in der Aussicht wahr zu nehmen. Man könnte meinen, wir wollten den Pumori besteigen. Er ragt direkt hinter dem Kala Pattar auf und so laufen wir schnurstracks auf seine Eispyramide zu. Im unteren Khumbu, etliche Hundert Meter tiefer, liegt eine geschlossene Wolkendecke. Als Extraattraktion heute, als ob es einer solchen noch bedürfte, füllt die weiße Watte das untere Tal. Wie ein weißes Meer zwischen hohen Gipfel sieht das aus. Gegenüber steht der atemberaubende

Nuptse, beinahe greifbar. Über zweitausend Meter steil abfallende Eiswände wendet er mir zu, kalt, abweisend, scheinbar unbezwingbar. Um seinen nach Nordwesten auslaufenden Grat knickt der Khumbugletscher talwärts. Der gefährliche, berühmt-berüchtigte, spaltendurchfurchte Eisfall wirkt von hier harumlos, wie ein missratener, puderbezuckerter Streuselkuchen.

Ama Dablam
Die Wolkendecke hebt sich langsam. Doch für die nächsten Stunden bleibt die Sicht super!

 

Doch all diese Sensationen sind zu toppen! Er schlägt sie alle, er ist der höchste Punkt auf dem Dach der Welt, der höchste Berg der Erde. Er ist Sagarmatha für die Nepalis, heiliger Chomolungma der Tibeter und Mount Everest für den Rest der Welt. Es gibt spektakulärere, schwierigere, sagenumwobenere, schönere Berge. Aber keiner ist höher, achttausendachthundertachtundvierzig Meter reckt er seine schwarze Pyramide in den Himmel. Schon von hier setzt sich der Südgipfel (8751m) deutlich ab, erkennt man den Südsattel (7925m), zwischen Everest und Lhotse (8414m).

Auf dem Kala Pattar 5550m vor dem Pumori

Der Weg ist einfach, verlangt keine Konzentration, also bin ich einzig schuftende Lunge und immer wieder gierig schauende Augen. Natürlich sind die zu überwindenden 450 Höhenmeter anstrengend, treiben den Puls gewaltig nach oben. Aber ich fühle mich großartig und stark, widerstandsfähig. Letzten Endes ist nun wenig Unterschied zu einer alle Leistung fordernden, steilen Strecke in heimischen Gefilden. Das hier ist ein kontrollierter, bewusster Aufstieg, kein Vergleich zu dem „Gekrieche“ vor zwei Jahren auf den Cotopaxi. Es lebe die Akklimatisation!

Auf dem Kala Pattar: Ich stehe ihm gegenüber, dem höchsten Berg der Erde!

Um 9.20 Uhr ist die Gruppe oben. Kurz unterhalb des Gipfelsteinmannes sorgt ein wackeliger Felsbrocken noch einmal kurz für einen Adrenalinschub. Geschafft! Viel ist jetzt zu tun, ausgiebiges Schauen, Staunen und vor allem Fotografieren hebt an. Der „Steinhaufen" Kala Pattar ist objektiv ohne jede Bedeutung, eine unscheinbare Erhebung von 5545 Metern zwischen geologischen Sensationen. Dennoch wird er mir unvergesslich bleiben, als Aussichtsberg und weil für mich diese Höhe immer eine Herausforderung ist. Von dem üppig mit bunten Gebetsfähnchen drapierten Gipfel geht der Blick ringsum. Die meisten Blicke zieht die gewaltige schwarze Pyramide des Sagarmatha auf sich. Ein Großteil des Normalanstieges ist nun

erkennbar. Über dem Khumbu-Eisfall fixieren meine Augen die Position von Lager I, den Südsattel und hangeln sich entlang des Südgrates zum Südgipfel und schließlich auf 8848 Meter.

 

Aber auch alle anderen Himmelsrichtungen wissen mit Schönheit zu beeindrucken. Nächstgelegen der Pumori - wenn ich jetzt einen Stein aufhebe und in seine Richtung schleudere, dann wird an seinen weißen Flanken eine Lawine abgehen. Unfug, Trugschluss dieser Gedanke, meine Augen lassen sich vom fehlenden Bezug

Kala Pattar - Mount Everst - Nuptse

täuschen. Später, beim Blick auf die Karte, werde ich feststellen, dass der Gipfel noch zwei Kilometer weit weg ist! Und doch muss ich hier den Kopf heben, um die Spitze sehen zu können. Tendi deutet in Richtung des Pumori-Basislagers. An welcher Stelle mögen die toten Spanier liegen? Von den Spuren einer Lawine ist nichts zu sehen. Stunden später, zurück an der Lodge, werde ich erfahren, dass eine Bergung ihrer Leichen nicht möglich ist. Sie sind zu tief verschüttet und liegen an zu exponierter Stelle. Sie haben ihr Grab gefunden, bis sie das Eis dereinst freigeben wird ...

 

Im Südwesten verhindert die dichte Wolkendecke Einblicke in die Tallagen. Inzwischen hat sie sich um einige Hundert Meter gehoben und ist auch weiter ins obere Khumbu vorgedrungen. Die vordersten Ausläufer müssen die Lodge schon erreicht haben. Sollte Ines dort unten auch noch mit Schatten und Kälte bestraft

werden? Ein bisschen traurig sitze ich schon hier auf diesem Gipfel. Dass sie nicht mit aufsteigen konnte, gemeinsames Erleben nicht möglich ist, dämpft meine Euphorie und vergällt die Freude hier zu sein. Es will mir auch nicht in den Kopf, dass es ausgerechnet sie treffen musste! Sie, die doch alle Entbehrungen am leichtesten von allen weg zu stecken schien und mit der Höhe nicht die mindesten Probleme hatte.

Wolken bedecken die Tallagen des Solo Khumbu
Schon oft stand ich auf Gipfeln. Für die Schönheit dieses Rundblicks finde ich keine Worte ...

 

Ich schieße ein Foto von Tendi vor dem Pumori. Er hat es sich, zwischen den Steinen liegend, „gemütlich" gemacht. Solches Verhalten ist ungewöhnlich, gerade für Tendi, unseren jederzeit „dienstbaren Geist", der ständig ein waches Auge darauf hat, ob jemand Hilfe braucht oder eine Erklärung. Dennoch denke ich mir hier noch gar nichts dabei, glaube einfach nur ein witziges Foto zu schießen.

 

Fotos! Fotos! Bin ich süchtig? Immer wieder drücke ich auf den Auslöser, lasse mich natürlich auch vor Kala Pattar und vor allem dem Everest ablichten. Das Chomolungma-Motiv habe ich nun sicher mehr als zehn Mal im Kasten. Keinem geht es hier anders, meterweise Filmstreifen werden hier verbraucht, digitale Speicher mit Megabytes Everest gefüllt.

 

Der wackelige Felsblock unterhalb des Kala Pattar Gipfels ist zwischenzeitlich zur Unfallgefahr geworden. Wir sind ja nicht alleine hier oben, andere Gruppen haben dasselbe Ziel und ständig treffen neue Trekker ein. Unsere Guides beseitigen das Problem, hieven den tonnenschweren Brocken an und so poltert er einige Meter tiefer.

Er überragt sie alle - Mount Everest 8848m Dieser Anblick lohnt jede Strapaze -
Sagarmatha 8848m

Fast windstill ist es und angenehm warm. Bilder, die mich in voller „Montur" zeigen, täuschen Kälte vor. In Wahrheit habe ich nicht viel an. Unter der Goretex-Jacke lediglich ein langärmeliges Hemd, unter der Goretex-Hose nicht mal eine lange Unterhose. Bei gutem Wetter im Oktober ist das unnötig, während des Aufstiegs ohnehin. Untypisch für mich ist lediglich die Mütze, die ich seit Tagen trage. Jeder Luftzug lässt einen am Kopf frösteln und meine erkälteten Mittrekker sind Warnung genug.

 

Und wieder schweift der Blick. Der Nuptse spielt sich auf! Deutlich näher als der Mount Everest, versucht er sich größer und bedeutender erscheinen zu lassen. Mit gefährlich steilem Eis und Fels, jäh abfallenden Gletschern, rissig, klumpig hängenden Eisbrüchen und einem kilometerlang nach Westen abfallenden Grat gewinnt er die ihm zustehende Aufmerksamkeit.

 

Losreißen, Abschied nehmen vom Kala Pattar, von einem der außergewöhnlichsten Orte dieser Erde, wir müssen absteigen. Ich frage mich, wie es meiner Frau geht, drei Stunden sind seit dem Aufbruch vergangen. Also beeile ich mich mit dem Abstieg, halte nur ein paar Mal inne für das eine oder andere Foto und zum Schauen. Ich finde sie guten Mutes, lesend, in der Sonne vor der Lodge sitzend. Der Ausblick von hier unten ist auch beeindruckend, von ihrer Sitzposition aus blickt sie direkt in die atemberaubenden Wände des Nuptse. Und sogar vom Mount Everest kann man ein Stück erspähen. Kurz vor meiner Ankunft an der Lodge sah ich ein Yak, das als „Fotomodell" auf einem Hügel posierte. Meine Hoffnungen, das träge Tier könnte dort noch stehen erfüllen sich und ich pirsche mich vorsichtig heran, um es nicht zu erschrecken. Wuchtig, klotzig und dunkel steht der Berg aus Fell und Fleisch vor den Himalayagiganten. Dieser Schnappschuss muss ganz einfach gelingen ...

Ein Berg aus Fell und Fleisch - Sie nennen es Yak Yak im Solo Khumbu

Es folgt ein Mittagessen im Freien, gut eingepackt, denn mittlerweile ist böiger Wind aufgekommen, der bisweilen um die Lodgeecken fegt. Lars und Günther vertreiben sich und auch ein wenig uns Zuschauern die Zeit, indem sie einen „Videofilm" drehen. Kameramann ist Günther, einziger und Hauptdarsteller Lars. Drehbuch gibt es keines, so bleibt reichlich Raum für Spontanität. Das Sujet? Dargestellt werden die ausufernden Probleme eines nächtlichen Toilettenbesuches:

Hierbei ergänzen sich Taschenlampen- und Klorollenhalteproblematik, Entleerungsdruck sowie das Hantieren an der eigenen Kleidung zu einem Fiasko der unangenehmsten Art...

 

Nach diesem lustigen Intermezzo spricht sich herum, dass Tendi Herzprobleme hat. Er hat sich drinnen hingelegt und hofft bis zum Abmarsch wieder fit zu sein. Von den Herzproblemen hat er vor Tagen schon einmal berichtet, als er die Geschichte von seinem Mount-Everest-Versuch erzählte. Da erwischte es ihn mit vierzig Kilogramm Last auf dem Rücken, in über 7000 Metern Höhe - das Ende seiner Expeditionskarriere. Niemand von uns ahnte anlässlich seiner Schilderungen, dass diese Beschwerden auch in niedrigeren Höhen wiederkehren könnten. Beim ersten Aufbruchsversuch nach Lobuche übergibt sich Tendi schon ein paar Meter hinter der Lodge und bleibt kraftlos sitzen. Georg hat einen neuen Patienten. Zufällig ist die Ärztin aus Pheriche, von der Hilfsstation, wo ich das Antibiotikum vor ein paar Tagen kaufte, heute hier oben. Georg hat sie während der Mittagsrast gesehen und erkannt. Jetzt holt er sie, um sicherheitshalber eine zweite Diagnose zu haben. Alle sind ehrlich betroffen, stellen Überlegungen zu unserem Certek-Bag an, der jetzt natürlich schon in Lobuche sein dürfte, die Träger brachen ja schon irgendwann am Vormittag auf. Da fällt mir ein, dass ich unsere Parallelgruppe bei der Nachbarlodge ankommen sah, als ich vom Kala Pattar zurück kehrte. Irgendwer rennt sofort los, vielleicht brauchen wir ja den Certek-Bag für Tendi. Nach kurzer Zeit steht beider Ärzte Meinung fest, keine HAS (Höhenkrankheit), Tendis Herz schlägt arhythmisch. Kaum fassbar aber Georg, der Internist, hat auch Stethoskop und Betablocker gegen Herzrhythmusstörungen dabei!!! Eine Tablette verabreicht er ihm sofort mit einem Schluck aus einer Trinkflasche. Jetzt braucht Tendi eine Stunde Ruhe. Danach - so hofft Georg - ist er so weit wieder hergestellt, dass die anderthalb Stunden Abstieg nach Lobuche möglich sind. Der eilig herbeigeschaffte Certek-Bag wird nicht benötigt und man trägt die Alu-Kiste wieder weg.

 

Tendi ist das sichtlich peinlich! Er als Hindernis der Gruppe! Er, der doch den Weg sichern und helfen sollte, wo immer nötig! Er ist nun selbst auf Hilfe angewiesen. Auch Tej versucht Entschuldigungen für die Verzögerung, fühlt sich seinen „Kunden“ gegenüber schuldig. Selbstverständlich für mich, was nun geschieht: Jeder signalisiert sein eindeutiges „no problem“, hilft wo immer möglich und sei es nur durch Zurückhaltung oder einen aufmunternden Blick. Geraume Zeit schon denke ich darüber nach, was ich tun könnte. Doch die einzig wichtigen Personen für Tendi sind nun Georg und Tej und deshalb verkrümele mich mit Ines und den anderen wieder auf die Plastikstühle vor der Lodge. Dort in der Sonne warten wir die Stunde ab. Kälter ist es geworden und noch windiger. Ich ziehe unter meine dünne Jacke den Fleece-Pullover an. Tej ist unterdessen dabei zwei Träger anzuheuern, die Tendi nach Lobuche tragen (!) sollen. Mindestens einer der Sherpas gehört zu unserer Parallelgruppe. Zum zweiten Mal seit der Base-Camp-Sache sehe ich Tej mit todernstem Gesicht agieren. Alle Verantwortung lastet letztlich alleine auf ihm.

 

Also dann los! Der erste Sherpa nimmt Tendi Huckepack und trägt ihn die fünfzig Höhenmeter des einzigen Anstieges nach Lobuche hinauf. Dort oben fühlt sich Tendi ganz offensichtlich besser. Ab hier läuft er selbst, langsam, bedächtig, immer wieder Pausen einlegend, die ihm Tej verordnet. Wieder überlege ich, wie ich mich nützlich machen kann. Tej kann sich nun gar nicht mehr auf die Gruppe konzentrieren, er läuft an der Spitze zusammen mit Tendi. Kommentarlos nehme ich die Nachhut ein und zähle von Zeit zu Zeit die Gruppe durch. Der Weg ist zwar völlig harmlos, obendrein bekannt aber man kann ja nie wissen. Bald steht fest, dass die Träger nicht mehr gebraucht werden. Tej zahlt sie aus und mit Danke und freundlichem Hallo verlassen sie uns in Richtung Gorak Shep. So gerät unser Rückmarsch nach Lobuche zum Krankentransport. Nein, ein Spaß ist das alles wirklich nicht. Was wäre aus Tendi geworden, gehörte unserer Gruppe nicht rein zufällig ein Internist an? Ich frage mich das, denke es aber nicht zu Ende ...

Mount Everest und Nuptse Panorama
Unbeschreiblich, unfassbar, unerreichbar, unüberbietbar: Mount Everest und Nuptse!

 

Am Abend, in der schon hinlänglich bekannten Lodge, verordnen wir Tendi absolute Ruhe und sitzen. Jeder Versuch etwas zu tun, mitzuhelfen oder dergleichen, wird schon im Keim erstickt. Georg hat ihn gleich nach der Ankunft im Schlafraum noch einmal gründlich mit dem Stethoskop abgehorcht und war zufrieden. Ende gut, alles gut. Übrigens auch für den am Vorabend vermissten Tschechen. Als der gegen zwanzig Uhr immer noch nicht aufgetaucht war, organisierten die in Gorak Shep versammelten Guides eine Suchaktion. Alle Nepali schwärmten aus und fanden ihn zusammen gekauert, sitzend. Er hatte sich verlaufen...

 

      back-pfeil.gif 81x85